Warum jedes Wort ein Universum wiegt: Schreiben als spirituelle Praxis

Veröffentlicht am 25. November 2025 um 11:51

Das Ringen um jedes Wort

Ich tue es nicht. Ich ringe und erinnere mich an die Bewertung der Einzelkapitel. Da ist Kapitel 4, Alriks Messerkampf. Tage und Nächte verbringe ich mit den Sätzen, in denen er die Klinge an Owes Kehle hält. Jedes Wort gleicht einem Stein, den ich x-fach umdrehe.

 

»»»»»»»»»»»»»»»»»»»»» Zorn? → Zu platt Wut? → Zu einfach Kälte? → Zu gefühllos «««««««««««««««««««««

 

Es geht um das glühende, lebendige, schrecklich vertraute Gefühl der Versuchung. Um den Schatten in ihm, der nicht sein Feind, sondern ein Teil von ihm ist. 

» ES GEHT UM DIE VERSUCHUNG «

Ich ringe, bis ich schreibe: In seinen Augen schimmert etwas, das nicht mehr nur rohe Verachtung ist. Ich könnte ... nur ein kleiner, kraftvoller Stoß. Die Versuchung ruft mir zu: "Tu es." Doch töte ich ihn, werde ich zu allem, was ich an ihm verachte und verliere, was mich ausmacht.

 

Mit der Lupe betrachtet, fühlt sich dieser Satz wie eine schwere Last an. Ist er zu lang? Zu gedankenschwer? Bricht er den Rhythmus der Kampfszene?

Dann das Ritual am Opferstein, Kapitel 8. Hulda und Alrik essen die dampfende Leber des Opfertiers. Es soll kein grausiger Akt sein, sondern eine tiefe Verbindung mit dem Tier, mit den Göttern, mit ihrem eigenen Schicksal. Die Szene muss roh und heilig zugleich sein. Ich arbeite jedem Sinneseindruck aus. Der Geschmack muss "bitter wie gekochte Rinde, süß wie Freiheit" schmecken. Nicht metaphorisch, sondern wörtlich. Denn in der Nornenschnur-Welt ist die Rinde bitter und die Freiheit süß, und beides ist im Blute des Lebens untrennbar vermischt.

Wieder dieses quälende Feilen. Wieder die Frage: Versteht das überhaupt jemand?

 

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Die Erkenntnis

 

▁▁▁▁ „Das Ringen ist nicht der Feind des Werkes. Es ist sein Herzschlag.“ ▁▁▁▁

 

Als ich die Kapitel aneinanderfüge, verstehe ich es. Der zähe Kampf um Alriks innere Zerrissenheit im vierten Kapitel macht die stumme, gemeinsame Entschlossenheit im achten erst möglich. Die Last des Satzes verwandelt sich in die Leichtigkeit einer Geste, die keine Worte mehr braucht. Die Mühe, die ich mir mit jedem Wort mache, webt das "unsichtbare Geflecht", von dem der Roman handelt – die Verbindung aller Dinge, die sich nicht erklären, nur erfahren lässt.

Schreiben, wie ich es verstehe, ist die Kunst, ein Universum in ein Wort zu legen. Es ist die Demut, anzuerkennen, dass Sprache nie die ganze Wahrheit fassen kann. Und der trotzige, glorreiche Versuch, es doch zu tun.